«Die Welt der Kunst ist für eine Gesellschaft unbezahlbar.»
Benjamin Herzog Markus, Du hast Dir für Deinen offiziellen Antritt beim Sinfonieorchester Basel Gustav Mahlers 2. Sinfonie ausgesucht. Mit dieser, der Auferstehungssinfonie, beginnt auch der neue Basler Mahler-Zyklus. Mahlers Zweite ist ja wie prädestiniert für einen solchen Anfang.
Markus Poschner Allerdings. Mahlers Auferstehungssinfonie ist eines der beeindruckendsten Werke des gesamten klassischen Repertoires. Kompromisslos und für alle Ausführenden unglaublich herausfordernd. Mahlers Musik überhaupt beansprucht und verlangt wie die Musik kaum eines anderen Komponisten immer den ganzen Menschen. Sie ist bedingungslos, so wie er selbst wohl auch war, als Komponist und Dirigent.
BH Mahler verhandelt in seinen Sinfonien fundamentale Fragen. « Warum hast du gelebt ? Warum hast du gelitten ? Ist das alles nur ein grosser, furchtbarer Spass?», schreibt er zu seiner 2. Sinfonie. Diesen «Spass», diese Absurdität erleben wir heute gerade wieder. Musik also für das 21. Jahrhundert?
MP Mahlers Kosmos ist nach allen Seiten hin offen. «Meine Musik ist gelebt und nicht gemacht», hat er einmal behauptet. Musik ist für ihn also nicht einfach nur Kunstwerk, sondern das Leben selbst. Und daher gehen von ihm auch unheimlich starke Impulse in unsere Jetztzeit aus. Das Zerrissene, Komplexe, die grossen Gefühle, unsere Sehnsucht nach Spiritualität, die Urgewalt der Natur sind immerwährende Bestandteile seiner Kunst und stehen für die Zeitenwende, an der Mahler stand, so wie wir vermutlich gerade auch wieder an einer Zeitenwende stehen.
BH Alma Mahler sagte einmal, ihr Mann sei ein «Leidsucher». Empfindest Du Mahler und insbesondere seine Musik auch als so bedrückend ?
MP Nein. Seine simple Botschaft lautet für mich: Es ist jetzt unsere Aufgabe, neue Wege und Antworten zu finden, die uns weiterführen. Nachdenklich macht mich allerdings, dass nach Mahler die Welt der Kunst implodierte. So wie auch die gesamte reale Welt in einer der grössten Katastrophen der Menschheitsgeschichte zugrunde ging. Ich hoffe, dass wir es besser machen werden.
BH Überall in unseren Gesellschaften haben sich Hierarchien verflacht. Wenn auch manchmal nur scheinbar. Nimmt man ein Orchester als Abbild der Gesellschaft, was für einen Organismus siehst Du da repräsentiert?
MP Natürlich ist ein Klangkörper wie das Sinfonieorchester Basel zunächst immer ein lebendiger Organismus mit Eigenschaften und Mechanismen, die denen unserer Gesellschaft sehr ähnlich sind. Trotzdem ist es auch unsere ureigenste Aufgabe, die Welt zu spiegeln, sie zu hinterfragen und zu Antworten zu inspirieren. Ein Konzert ist ja nichts anderes als ein Ort des öffentlichen emotionalen Austauschs. So gesehen ist die Welt der Kunst und der Musik für eine Gesellschaft unbezahlbar: Hier können wir unsere Träume und Ängste verhandeln.
BH Der französische Soziologe Claude Lévi-Strauss hat Musik einmal als «Suche eines Mittelwegs» zwischen logischem Denken und ästhetischer Wahrnehmung bezeichnet. Was kommt für Dich zuerst: Logik oder Hörgenuss?
MP Während einer Aufführung muss jeglicher logische Ballast von uns abfallen, sonst kann niemals etwas Grösseres entstehen. Hier müssen wir in der Lage sein, unser Innerstes nach aussen zu tragen, um in Bereiche vorzudringen, die irgendwo zwischen Ordnung und Chaos liegen. Während der Proben allerdings geht es genau um das Gegenteil, um Orientierung, Perfektion, um das Verstehen. Das sind die Voraussetzungen für das maximale Mass an Freiheit, das wir brauchen, um im Konzert abheben zu können.
BH Das Sinfonieorchester Basel feiert diese Saison sein 150-jähriges Bestehen. Du hast Dich in die Geschichte des Orchesters vertieft. Wie nimmst Du es als neu hier wirkender Chefdirigent wahr?
MP Die Geschichte des Sinfonieorchesters Basel ist unglaublich beeindruckend. Wenn man bedenkt, wer hier in der Stadt rund um das Orchester alles tätig war, so liest sich das wie ein ‹Who is who› der Musikgeschichte. Für mich ist wichtig, in einen aktiven Dialog mit dieser Geschichte zu kommen. Wenn Gustav Mahler 1903 bei der Einstudierung seiner 2. Sinfonie so intensiv und leidenschaftlich mit den Musikern in Basel gearbeitet hat, wie es Zeitgenossen beschrieben haben, dann beeinflusst das auch heute unser Denken und Fühlen. Das soll keinesfalls esoterisch klingen, es hat für mich aber schon etwas sehr Geheimnisvolles und Inspirierendes.
BH Kehren wir noch einmal zu Mahler und seiner Musik zurück. Du dirigierst ja nicht nur die 2., sondern zum Ende dieser Saison auch die 3. Sinfonie. Wenn die Zweite die Auferstehungssinfonie ist, so wäre die Dritte seine Humoristische vielleicht? Humor als ästhetische Kategorie und Methode, die Widersprüchlichkeit der Welt, die diese Sinfonie ja als Ganzes abbilden will, aufzufangen?
MP Die 3. Sinfonie ist für mich so etwas wie der Inbegriff des Lebens überhaupt. Mahler vollbrachte als Musiker das grosse Wunder, sich den unschuldigen und naiven Blick eines Kindes zu bewahren. Dazu gehört freilich auch eine grosse Portion Humor und Ironie, manchmal sogar Parodie. Ich habe immer das Gefühl, besonders in der Dritten hat er keine Angst vor den eigenen Emotionen, vor dem Erlebten. Alles scheint hier ganz unmittelbar. Es geht ihm hier nicht nur um Reflexion, Spiegelung und Anbetung der Welt da draussen, wie die Überschriften zu den einzelnen Sätzen glauben lassen möchten, sondern um das elementare menschliche Erleben als solches: die Welt zwischen «irdischem Leben» und «Ewigkeit». Diesem unbeschreiblichen Sog kann sich niemand beim Hören entziehen.
Interview: Benjamin Herzog