Musik aus dem Spiegellabyrinth des Ichs
Melanie Unseld analysiert autobiografische Musik als Spiegelbild des Ichs. Berlioz’ Symphonie fantastique sei keine wahre Liebeschronik, sondern eine stilisierte Selbstdarstellung. Musik erzählt nicht objektiv, sondern subjektiv – wie ein Zerrspiegel im Labyrinth der Erinnerung.
«Bei autobiografisch kolorierten Kompositionen stellt sich die grundlegende Frage, wessen Leben hier erzählt wird.»
Kann Musik Geschichten erzählen? Können Melodien, Klänge und Akkorde so zusammengefügt werden, dass wir der Musik eine konkrete Erzählung mit Haupt- und Nebenfiguren, mit dramatischen Ereignissen, Emotionen und Situationsbeschreibungen entnehmen können? Kann Musik gar eine Lebensgeschichte erzählen, eine Biografie oder eine Autobiografie?
Viel Tinte und Druckerschwärze ist bereits verbraucht worden, um die narrativen Qualitäten von Musik, das Erzählenkönnen, zu beweisen (oder auch zu widerlegen). Klar ist, dass sich Musik in diesem Punkt von Sprache unterscheidet, die ganz ohne Frage und semantisch eindeutig Geschichten detailgenau zu erzählen vermag. Aber Musik? Wie etwa klingt die Geschichte einer unerwiderten Liebe? Hören wir tatsächlich einen Drachen, ein Schwert, einen Helden – oder doch nur Richard Wagners Leitmotive? Ganz zu schweigen von Sinfonischen Dichtungen von Franz Liszt, Also sprach Zarathustra von Richard Strauss oder Hector Berlioz’ Symphonie fantastique. Komponistinnen und Komponisten scheren sich nicht um die musiktheoretische oder musikphilosophische Frage, ob Musik narrativ sein könne. Sie vertonen Geschichten. Zumindest schreiben sie hin und wieder Musik, durch die eine Geschichte nachvollziehbar werden soll. Und sie komponieren Musik, die von ihrem eigenen Leben erzählt, autobiografische Musik.
Interessanterweise regen dabei Erinnerungen an schöne Erlebnisse seltener zur Komposition an – Fanny Hensels Klavierzyklus Das Jahr wäre hierfür ein Beispiel, jene ‹Souvenir-Komposition› an ihre Italienreise. Wesentlich häufiger sind es nicht die ‹schönen Momente› des Lebens, die vertont werden, sondern die Lebensdramen. Bedřich Smetanas Klaviertrio in g-Moll op. 15 etwa trägt den Vermerk: «Erinnerung an mein erstes Kind Bedřiška, welche durch ihr ausserordentliches Musiktalent uns entzückt hat, jedoch uns durch den unerbittlichen Tod im Alter von 4½ Jahren entrissen wurde.» Bekannter noch als dieses Porträt der jung verstorbenen Tochter ist sein Streichquartett Aus meinem Leben aus dem Jahr 1876. Auch hier ist es ein traumatisches Erlebnis, das in die Komposition eingeflossen ist, der Verlust seines Gehörs. Alban Berg ging es geheimnisvoll an, als er seine leidenschaftliche Liebe zu einer verheirateten Frau in seine Lyrischen Suite einkomponierte. Anders als Smetana legte er es darauf an, das ‹Programm› der Lyrischen Suite und damit seine Liebe geheim zu halten. Niemand ausser Hanna Fuchs-Robettin sollte die Leidenschaften und Sehnsüchte verstehen können. Rein kompositorisch nutzte Berg dabei u.a. Tonbuchstaben: H-F für den Namen Hanna Fuchs und A-B für seinen eigenen. Das einzige annotierte Exemplar der Taschenpartitur, in dem er seine Gefühle ‹entschlüsselte›, schenkte er übrigens seiner fernen Geliebten. Seiner sich entfernenden geliebten Ehefrau rief Gustav Mahler in der Partitur seiner unvollendeten 10. Sinfonie nach: «Ach, Almschi!» Zahlreiche Spuren finden sich in der Handschrift dieser Sinfonie, Spuren, die auf die unglückliche Lebenssituation des Komponisten kurz vor seinem Tod hinweisen. Das Notenblatt schien hier für ihn ein Gesprächsgegenüber zu sein, dem er seine Verzweiflung anvertrauen konnte (wohl wissend, dass seine Ehefrau seine Noten und damit auch die Botschaften lesen würde). Und auch wenn die Musik in diesem Falle nicht von der verworrenen Dreiecksbeziehung zwischen Gustav und Alma Mahler und Walter Gropius ‹erzählt›, ist sie in anderem Sinne doch autobiografisch eingefärbt.
Und Berlioz? Nichts Geringeres als das «Drama meines Lebens» war für ihn Ausgangspunkt seiner Symphonie fantastique. In seinen Memoiren schreibt Berlioz ausführlich von seiner Beziehung zu Harriet Smithson. Pathetisch beginnt er dieses Kapitel mit den Worten: «Ich komme nun zum grössten Drama meines Lebens. Ich werde keineswegs alle schmerzlichen Ereignisse daraus erzählen. Ich beschränke mich darauf, Folgendes zu sagen: Ein englisches Theater kam nach Paris, um dort die Dramen von Shakespeare aufzuführen […]. Ich wohnte der ersten Aufführung des Hamlet im Odéon bei. In der Rolle der Ophelia sah ich Harriet Smithson, die fünf Jahre später meine Frau wurde.» Von Beschränkung konnte bei der Verarbeitung des «Dramas» nicht die Rede sein. Berlioz’ tumultierte Emotionen fanden in Musik ihren Ausdruck, in der Symphonie fantastique. Hören wir damit die Geschichte dieser Amour fou?
Bei autobiografisch kolorierten Kompositionen stellt sich die grundlegende Frage, wessen Leben hier erzählt wird. Schärfer noch: Ist das rhetorische Ich tatsächlich identisch mit jener Person, die komponiert? Was ‹erzählt› also autobiografische Musik, das eigene Leben oder eine Selbstdarstellung in Leid- und Leitmotiven?
Autobiografische Kompositionen sind darin mit jenen geschriebenen Memoiren und Autobiografien vergleichbar, die das eigene Leben in die Öffentlichkeit tragen. Diese aber sind geprägt von Selbststilisierung. Das schreibende Ich modelliert jenes Ich, das es dem lesenden Publikum bereit ist zu offenbaren, das es nach aussen darstellen will. Das rhetorische Ich der Autobiografie ist damit allenfalls ein Spiegelbild des schreibenden Ichs. Und nicht selten ist dieser Spiegel ein Zerrspiegel oder gar Teil eines vertrackten Spiegellabyrinths, aus dem wir den Ausgang nicht ohne Weiteres finden. Frei nach Sigmund Freud liesse sich formulieren, dass die autobiografische Wahrheit grundsätzlich «nicht zu haben» ist, und selbst «wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen.»
Begreift man damit autobiografische Musik nicht als Abbild des erlebten Lebens, sondern als akustisches Spiegellabyrinth, wird auch die Annahme obsolet, dass die Geschichten, die auf diese Weise erzählt werden, überhaupt ‹stimmen›, also ‹der Wahrheit entsprechen›. So ist auch Berlioz’ Symphonie fantastique keine Chronik seiner Beziehung zu Harriet Smithson. Vielmehr gibt sich der Komponist selbst die Gelegenheit, die Sinfonie-Form mit einem fantastischen Programm zu überformen und sich mit wilden instrumentalen Klangfarben-Experimenten zu zeigen. Die Sinfonie wird damit zur Hymne auf Berlioz selbst als experimenteller, avantgardistischer Komponist.
Autorin : Melanie Unseld