Stille als Reichtum

Porträt Stefano Gervasoni

In seinem Violinkonzert ‹Tacet› geht der italienische Komponist Stefano Gervasoni der Bedeutung der Stille in unserer Welt nach. Dem, was Stille für ihn ist, nämlich eine Haltung. Nach der Uraufführung des Werks im Mai 2025 in Mailand kommt es nun in Basel zur Uraufführung einer revidierten Fassung.

Ein Foto von Stefano Gervasoni

Stefano Gervasoni spricht mit Benjamin Herzog über sein Violinkonzert Tacet das Stille als Haltung und Ausdruck innerer Tiefe thematisiert. Die revidierte Fassung, uraufgeführt in Basel, zeigt Stille als musikalischen Reichtum und Moment der Freiheit – subtil, fliessend und voller Bedeutung.

« Hi Benjamin, I’m Stefano », blinkt es auf meinem Telefon. Ich treffe Stefano Gervasoni in Paris. Er stehe, schreibt er, an einem Metro-Eingang der Place d’Italie, gleich bei dem Café, wo wir uns verabredet haben. Seit Stefano Gervasoni 1992 zum ersten Mal für drei Jahre in die Stadt kam, um Kompositionsunterricht am Institut de recherche coordination acoustique/musique IRCAM zu nehmen, kehrt er regelmässig dorthin zurück. Seit 2005 hat er hier selbst eine Professur für Komposition inne. 

 

Das Konservatorium liegt im Norden der Stadt. Gervasoni lebt im Pariser Süden, genauer im 13. Arrondissement. Noch weiter in den Süden zieht es den Italiener Gervasoni, wenn er genug hat vom Hauptstadttreiben. Regelmässig fährt er ins beschauliche Städtchen Bergamo zurück. In die Stadt, wo er 1962 geboren wurde. 

 

Am 2. Mai dieses Jahres wurde sein neues Violinkonzert Tacet in Mailand uraufgeführt. Solistin war die Geigerin Patricia Kopatchinskaja, der das Konzert auch gewidmet ist. « Il rumore non fa bene, il bene non fa rumore », zitiert Gervasoni seinen Mentor, den Komponisten Niccolò Castiglioni, « Lärm tut nicht gut, das Gute macht keinen Lärm. » Wie aber ein 25-minütiges ‹Tacet › komponieren, ein Schweigen, will man das lateinische Verb wörtlich übersetzen, frage ich ihn in unserem Café ? « In diesem Titel ist natürlich eine gewisse Ironie verborgen », sagt Gervasoni. Er versteht die Stille nicht als Leere, nicht als Gegenteil von Klang. Sondern als Reichtum, als Bedeutung, als Richtigkeit.

«Stille schafft einen Zustand der Fülle.»

« Das, was man in seinem Innersten fühlt », so Gervasoni, « in ein kommunikatives Medium wie Musik zu übersetzen − das ist die Herausforderung. » Was einem selbst völlig klar sei, werde ja erst durch eine Interpretation, also in Händen der Musikerinnen und Musiker, auch klanglich manifest. Wichtig sei es darum, so akkurat wie möglich zu notieren. Wie zum Beweis holt Gervasoni sein Tablet hervor, um mir die Partitur von Tacet zu zeigen. Beim Komponieren schreibt er mit einem speziellen Stift direkt auf den Bildschirm. Dabei entsteht ein Manuskript. Allerdings nicht auf Papier. 

 

« Für die Musikwissenschaft ist das natürlich schade », sagt Gervasoni lächelnd. Denn so könnten, anders als bei Handschriften auf Papier, Änderungen später nicht mehr nachvollzogen werden. Ich denke an Partituren von Beethoven oder Mahler : Überschriebenes, Durchgestrichenes, Ausradiertes, Löcher im Papier. Als ich ihm das sage, malt er in akkurater Schrift wie zum Beweis eine Formel auf die Noten.

 

Eine Figur aus Ganz- und Halbtönen, die das ganze Konzert durchziehe. « Die Ganztöne streben nach oben, die Halbtöne nach unten. Dem Tod entgegen und somit der absoluten Stille. » Nachdem er mir das erklärt hat, wischt er die Formel wieder aus. 

 

Nach der Uraufführung von Tacet  in Mailand und einer zweiten Aufführung in Turin, waren sich Gervasoni und die Geigerin Patricia Kopatchinskaja einig, dass das Stück eine Kadenz brauche. « Ausgerechnet », sagt Gervasoni und lacht. Denn solche Anspielungen auf das Virtuosenkonzert des 19. Jahrhunderts wollte er eigentlich vermeiden. Tacet  hat daher auch keine Einteilung in Sätze, wie das klassischerweise der Fall ist. « Die Musik meines Konzerts gleicht eher einem Fluss. Ich denke in grösseren klanglichen Bögen. » Zwischen diesen Bögen, wenn sich eine Phrase ausgesungen hat, wenn Gervasonis Musikfluss in eine neue Biegung strömt, entsteht − subtile Anspielung auf den Konzerttitel − tatsächlich ein Moment der Stille. 

 

Eine Kadenz also für die Solistin gegen Ende des Stücks. Dann schweigt das ganze Orchester, während die Scheinwerfer auf Patricia Kopatchinskaja gerichtet werden. Solche ausführlichen Kadenzen sind Momente der Verzögerung. Energie staut sich an. Diese werde sodann in einem, wie Gervasoni es beschreibt, rasanten « Stafettenlauf » des Orchesters von Instrument zu Instrument weitergegeben, bevor das Ganze zu einem Ende kommt. Um fünf Minuten ist die revidierte Fassung von  Tacet länger als die Erstfassung. Man kann, was im Basler Konzert erklingt, also getrost als ‹zweite Uraufführung › bezeichnen. 

 

« Neben den vielen Metaphern, die damit in Verbindung gebracht werden – Reinheit, Frieden, Wohlbefinden, Ruhe, Trost –, ist Stille für mich ein Synonym für Freiheit und Demokratie », sagt Gervasoni. « Wie diese ist Stille eine Leistung, die Disziplin und Anstrengung erfordert, um sie zu erreichen und aufrechtzuerhalten. Und Stille ist – wie Freiheit oder Demokratie – zerbrechlich. Beides kann jederzeit ge- oder zerstört werden. » 

 

Im Café haben sie die Musik lauter gedreht, draussen drängt der Abendverkehr, es beginnt zu regnen. Gervasoni packt sein Tablet ein, wir verabschieden uns. Bald werden wir beide vom Lärm des Pariser Feierabendverkehrs verschluckt sein.

 

Autor: Benjamin Herzog

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