Vielleicht ein Drama, vielleicht eine Komödie

Anastasia Kobekina im Gespräch

Anastasia Kobekina stammt aus einer russischen Musikerfamilie und lebt seit 2012 in Deutschland. Mit dem 1970 fertiggestellten Konzert für Cello und Orchester von Witold Lutosławski gastiert die Cellistin in Basel. Was verbindet sie mit dem komplexen, hochpersönlichen Werk?

Ein Foto von Anastasia Kobekina.

Anastasia Kobekina spricht mit Marco Frei über Lutosławskis Cellokonzert als Spiegel des Konflikts zwischen Individuum und Kollektiv. Sie betont die Aktualität des Werks, seine bildhafte Sprache und die Mischung aus Dramatik und Ironie.

Marco Frei Anastasia Kobekina, lässt sich aus einem Kunstwerk der zeithistorische, auch politische Kontext herauslösen oder nicht?

 

Anastasia Kobekina Jede Kunst ist so universell, dass sie nicht nur einseitig etwas beschreibt oder nur einen Aspekt einer Sache reflektiert. Kunst ist ein Interpretationsraum für alle, und jeder sucht für sich eine eigene Resonanz mit ihr. Das ist für alle sehr individuell, aber das Erlebnis einer Aufführungskunst wie der Musik wird zu einem gemeinschaftlichen Erlebnis. Musik kommuniziert auf viel feinerem Niveau als beispielsweise Worte. Jeder kann für sich etwas mitnehmen, mit der eigenen Erfahrung und Vorstellungskraft.

 

MF Wie stellt sich für Sie dieser Interpretationsraum beim Lutosławski-Konzert dar?

 

AK Man kann es einerseits als Zeugnis der Geschichte hören und andererseits auch als ein Werk, das sehr aktuell für unsere Zeit ist. Weil es auch das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv beschreibt: einem Individuum inmitten einer bedrohlichen System-Maschinerie. Das macht dieses Werk auch heute noch so aktuell. Es ist wichtig, dieses Werk in unserer Zeit zu spielen.

 

MF Diese bedrohliche ‹System-Maschinerie› äussert sich in Gestalt von vehementen Blechbläser-Ausbrüchen, mit denen sich das Solo-Cello konfrontiert sieht. Lutosławski hat die Bedeutung offengelassen. Man könne die brachialen Akkorde als martialische Brutalität im kommunistischen Herrschaftsbereich der 1970er-Jahre in Polen hören oder abstrahierter als Auseinandersetzung zwischen Masse und Individuum. Wie stehen Sie dazu als Interpretin?

 

AK Dieses Werk ist auf jeden Fall sehr bildhaft ausgestaltet, obwohl die Sprache des Konzerts sehr zeitgenössisch und modern ist. Lutosławski arbeitet hier auch mit Vierteltönigkeit, und es gibt quasi-improvisierte Passagen und freie Aleatorik. Das Konzert ist dennoch sehr klar in Form und Gehalt. Was die Blechbläser-Ausbrüche betrifft: Lutosławski hat seinem Werk trotz allem auch eine fast schon frivole Atmosphäre attestiert. Diese Äusserung kann auch dazu einladen, den Kampf vielleicht etwas spielerischer zu sehen.

«Mich beschäftigt das Thema, was das Kollektiv mit dem Individuum macht.»

MF Nämlich?

 

AK Es ist vielleicht nicht nur ein Drama, was da aufgeführt wird, sondern auch eine Komödie. Es geht um die feine Trennungslinie zwischen Drama und Sarkasmus, scheint mir. Man lacht womöglich die eigene Angst aus und versucht sie durch Sarkasmus zu besiegen – und trotzdem bleibt da weiter eine Angst. Das ist schwierig zu erklären.

 

MF Vor dem ersten Ausbruch beginnt das Solo-Cello das Werk ganz allein. Dieser Anfang ohne Orchester erinnert an das 4. Klavierkonzert von Beethoven oder auch an das 2. Konzert von Sergei Rachmaninow. Aber ist das hier einfach ein Solo oder nicht schon die Solokadenz?

 

AK Es ist durchaus eine Solokadenz, hat aber zugleich eine sehr hypnotische Atmosphäre. Der Ton D wird pausenlos wiederholt, wie fallende Tropfen aus einem Wasserhahn. Das ist sehr monoton, immer im selben zeitlichen Abstand. Es ist eine unglaubliche Leistung von Lutosławski, damit schon vom ersten Moment an so viel zu sagen und so viel Atmosphäre zu schaffen.

 

MF Und plötzlich bricht das Blech herein.

 

AK Ja, diese Kadenz wird von drei Trompeten unterbrochen. Das ist sehr artikuliert, ähnlich der menschlichen Sprache, und das sollte man meiner Meinung nach unbedingt mit hineinnehmen in die Interpretation. Das wirkt auch sehr theatralisch. Ich liebe dieses Konzert auch deswegen so sehr, weil es wirklich auf die Bühne gehört. Ich glaube tatsächlich, dass es kein Werk ist, das man einfach als Einspielung hören kann. Man sollte es definitiv live im Konzertsaal erleben, wie ein Theaterstück.

 

MF Das Konzert ist für Mstislaw Rostropowitsch geschrieben, der damals in der Sowjetunion und im kommunistischen Ostblock als Dissident galt. Lutosławski hat deswegen grosse Probleme bekommen. Lässt sich das ausklammern?

 

AK Nein, natürlich nicht, aber da kommen wir wieder zum Anfang zurück: zum Universellen. Alle, ob Ausübende oder Publikum, gehen so weit in die Tiefe, wie sie es sich selbst erlauben – auch psychisch. Wir laufen alle durch die Welt mit unserer eigenen Schutzschicht. Das braucht man auch, angesichts der Nachrichten, die uns tagtäglich treffen. Mich beschäftigt das Thema, was das Kollektiv mit dem Individuum macht – der Mensch, der nichts ausrichten kann gegen eine Übermacht, gegen die Mächtigen dieser Welt. Das berührt zwangsläufig auch die heutige Weltlage.

 

MF Spielen Sie das Werk heute, vor dem Hintergrund zahlloser Konflikte auf der Welt, anders als früher? Erleben Sie einen Unterschied für sich?

 

AK Ich hatte das Lutosławski-Konzert 2022 in Bochum gespielt, rund ein halbes Jahr nach dem Beginn des Kriegs in der Ukraine. Es gab in dem Orchester auch Mitglieder aus der Ukraine und aus Belarus. Dass wir damals dieses Werk gemeinsam aufgeführt haben, das war – glaube ich – sehr bedeutend für uns alle. Das ging über Worte hinaus, und dafür gibt es auch keine Worte. Diese Aufführung damals in Bochum kurz nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs war auch ein Stück weit befreiend.

 

MF Wie meinen Sie das?

 

AK Auch wenn ich schon seit dreizehn Jahren in Deutschland lebe, interessiere ich mich für alles, was in meiner Heimat passiert. Bei Konflikten dieser Art, wo auch immer auf der Welt, ist es schwierig, rational zu bleiben. Das erschüttert einen tief, und diese Erfahrung trägt man in sich. Wenn ich ein Werk wie das Lutosławski-Konzert spiele, schwingen alle meine eigenen Erfahrungen mit. Wir leben in Zentraleuropa noch relativ friedlich. Ich habe noch nie eine Bedrohung erfahren. Wenn ich jetzt in Russland leben würde, zu dieser Zeit, wäre meine Sicht auf das Lutosławski-Konzert wieder ganz anders. Ich möchte mit dieser Musik von Mensch zu Mensch sprechen.

 

Interview: Marco Frei

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