Die Wichtigkeit des Liedes

Interview mit Bariton Christian Gerhaher

Christian Gerhaher überlegt viel beim Singen. Auch im Konzert. Ob Singen also ein Genuss ist …? Für sein Publikum jedenfalls schon. Gerade weil Gerhaher so reflektiert ist und dem reinen Wohlklang skeptisch gegenübersteht.

Benjamin Herzog Sie haben vor ein paar Jahren ein Lyrisches Tagebuch verfasst, in dem Sie schreiben: «Wo ich herkomme, da ist es ein bisschen wie im Wilden Westen. Straubing liegt in einer grossen Ebene. Schwemmland der Donau, der weite Horizont einzig im Norden endend, am Bayerischen Wald. Im Sommer wird es sehr heiss, und bei meinem Freund auf seinem Bauernho staubte es nur so vom Getreide.» Das ist eine sehr romantische und sehr deutsche Erinnerung, richtig?

 

Christian Gerhaher Es war tatsächlich sehr schön dort. Obs romantisch war, weiss ich nicht, und deutsch wars vielleicht auch nicht. Für mich war das eben wie der Wilde Westen. Ein Gegensatz zu der eher bildungsbürgerlichen Atmosphäre, in der ich aufgewachsen bin. Freunde und Verwandte – da ging es doch viel um Musik, um Literatur, Kunst. Im Nachhinein war das vielleicht das grosse Idyll.

 

BH Später wird diese Szene gebrochen durch einen Düsenjet, der im Tiefflug vorbeibraust. So eine Erfahrung des Bruchs ist charakteristisch für die Moderne, zu der ich auch Gustav Mahlers vor 130 Jahren komponierte Wunderhorn-Lieder zählen würde. Singen Sie Mahler mit dieser ‹Tiefflieger-Erfahrung›?

 

CG Das finde ich eine sehr interessante Assoziation. Mir gings mit dieser Erzählung eher um das zeitversetzte Bemerken. Ich war am Telefon und hörte über den Telefonhörer, wie dieser Jet bei meinem Freund vorbeiflog. Ein paar Sekunden später war er in vivo bei mir, wie das physische Eintreffen einer Nachricht – das löste in mir die Ahnung von einer grossen Bedeutung aus, die ich erst später konkret einzuordnen lernte: In vielen Liedern ist ja von Botschaften, ‹Liebesbotschaften› die Rede. Und das ist vielleicht der wichtigste Topos des deutschen 19. Jahrhunderts. Bei Schumann ständig, bei Beethoven in der Fernen Geliebten, bei Schubert als Eröffnung des Schwanengesangs, auch in den Suleika-Liedern. Bei Mahler kommt das allenfalls noch im Rheinlegendchen vor. Sozialisiert ist Mahler zwar romantisch, in seiner besonders uneindeutigen Wirkung ist er aber doch eher modern. Das war für mich auch ein bisschen so mit meiner eigenen Kindheit. Ich bin aufgewachsen in einem mittelalterlichen Städtchen an der Donau, das aber natürlich dennoch von der Moderne gekennzeichnet war. Bei Mahler finde ich das insofern interessant, als er mit einem Fuss in dieser Moderne stand, aber begriffen als solche hat er sie nicht – so seine eigenen Worte. Sie können sagen, Mahlers Musik wirkt modern mit diesen ganzen Versatzstücken, dieser Collagetechnik. Ja, aber diese Versatzstücke, die jüdischen Klarinetten, die Militärmärsche und so weiter – das alles stammt aus der Vergangenheit. Diese Collagen bei Mahler geben einen erzählerischen Rahmen immer nur vor, im Grunde stehen die verschiedenen, eine Erzählung prätendierenden Momente mehr oder weniger ratlos nebeneinander.

 

BH In der Abfolge Ihrer Auswahl der Wunderhorn-Lieder trifft ein zum Tode Verurteilter direkt auf den Heiligen Antonius, der zu den Fischen predigt. Preist der Verfolgte im Turm die Freiheit der Gedanken, so werden diese Gedanken in der Fischpredigt des Antonius gar nicht verstanden. Ist dieses Nebeneinander nur noch zynisch oder will uns diese Auswahl etwas anderes mitteilen?

 

CG Ich habe die Lieder so ausgewählt und zusammengefügt, dass sie für mich auf klangliche Weise passen. Aber weil die Texte ja so gut sind und von Mahler auch so genial umgesetzt, funktioniert es auch auf der Textebene. Die Fischpredigt einzufügen, ist nicht ganz einfach. Da sind natürlich diese zynischen Momente drin, aber es überwiegt doch das Humoristische. Das könnte man auch gut neben das Rheinlegendchen stellen, wenn man dieses Lied Richtung tänzerischer Nachmittagsidylle gestalten würde. Das sehe ich aber nicht so. Viel wichtiger dort ist doch die Wut und der Ärger über die Übervorteilung der Liebenden durch einen Machthaber. Sie sehen also, solche Verbindungen geschehen durch den Interpreten und sind gar nicht so sehr von der Komposition abhängig.

BH Wenn ich Ihnen zuhöre, so habe ich den Eindruck, dass Ihre Interpretationen ganz vom Text ausgehen, vom Wort. Sie lassen sich auch nicht von einer schönen Melodie zu reinem Wohlklang betören. Richtig?


CG Reiner Wohlklang, also ohne bestimmende Bedeutungsintention, das ist sicher schwer vorzustellen. Für mich geht das schnell in Richtung Unterhaltung, die aber dann nie so gut ist wie wirkliche Unterhaltungsmusik, sondern oft schnell ein wenig schäbig wird und pauschal bleibt. Klar habe ich als Sänger viel mit dem Text zu tun. Das Klavier repräsentiert da sicher mehr die musikalische Seite. Beide aber sind im Lied zu einer semantischen Einheit verschmolzen, die sich in einem resultierenden Klang äussert. Unsere Aufgabe als Sänger ist es, einen Text, der ja in der Kürze eines Liedes gar nie vollständig verständlich gemacht oder verstanden werden kann, so auszudrücken, dass er ohne Reflexionsarbeit vom Publikum problemlos hingenommen werden kann. Natürlich geht es dann auch um erzählerische Bögen und so weiter. Aber wichtig ist, den möglichen Sinn des Gedichts durch die Deklamation hinter die Bedeutung des Klangs zurücktreten zu lassen. Interpretatorisch konkrete Vorstellungen sind natürlich unvermeidbar, die sind aber auch ständig in Veränderung begriffen – ich gehe als Darsteller mit dem Werk ja aktiv und frisch um. Dennoch bleibt meine Umsetzung idealerweise so transparent und unbeleckt wie möglich, um dem Publikum nicht eine eindeutige Interpretation aufs Auge zu drücken.

«Als letztes Mittel kommt das Vibrato.»

Christian Gerhaher, Bariton

BH Ein Ausdrucksmittel, das ich bei Ihnen höre, ist der kontrollierte Einsatz des Vibratos. Sie fangen die Töne oft non-vibrato an. Das ist etwas, das ich eher aus der alten Musik kenne. Spielen Aspekte historisch informierter Aufführungspraxis eine Rolle für Sie?


CG Das würde ich nicht sagen, obwohl ich gerne Barock-Repertoire singe. In meinem vorgerückten Alter als Sänger ist das non-vibrato eher ein Mittel der Kontrolle. Aber ich freue mich natürlich, wenn Sie sagen, das Vibrato wirke als interpretatorisches Werkzeug. Es ist vielleicht sogar das am meisten zu vermissende, jedenfalls aber das am wenigsten offensichtliche und weitaus geheimnisvollste Gestaltungsmittel, das wir als Sängerinnen und Sänger haben. Es gibt da insgesamt fünf. Zuunterst die Agogik – zu beliebig und inflationär eingesetzt, wird sie sehr schnell pauschal und aussagelos. So wie eine allgemeine braune Pathosfarbe. Dann kommt die Dynamik. Die ist logischerweise zentral wichtig und auch nicht vermeidbar, denn die Komponisten schreiben ja auch viel dazu vor. Dann kommen intonatorische Veränderungen, verbunden mit der Vokalfarbe und mit dem vierten, für den Liedgesang zentralen Interpretationswerkzeug, der Stimmfärbung, die die Vokalfärbung natürlich nicht betreffen darf, sonst würde die Verständlichkeit der gesungenen Sprache kompromittiert. Das hat dann bereits mit dem Vibrato zu tun, das mal nach oben, mal nach unten ausschlägt und so auch farblich und intonatorisch wirken kann. Die Intonation ist auch mit der Dynamik verbunden, mit dem Schalldruck. Als letztes und geheimnisvollstes Mittel kommt jedenfalls das Vibrato. Es besteht aus einer intonatorischen und einer dynamischen Komponente. Beide müssen synchronisierend zusammenkommen. Das ergibt wegen der Vielfalt der einzelnen Parameter eine Fülle von Möglichkeiten und Kombinationen. Das alles ist wirklich kompliziert und auch nicht bis ins Detail erklärt, aber ich versuche damit umzugehen.


BH Im Konzert aber müssen Sie sich von diesen technischen Überlegungen lösen, richtig?


CG Nein, teilweise muss man auch in einer Aufführung daran denken. Bei mir zumindest funktioniert das so. Ist Singen also ein Genuss? Theoretisch schon – für den Fall, dass sich eine Idee physiologisch verwirklichen lässt.

BH Sie singen auch Oper. In Zürich die Titelpartie in Wozzeck, an grossen Häusern wie der New Yorker Met den Wolfram in Tannhäuser, in Paris kürzlich den Grafen in Mozarts Figaro. Wie gut mischt sich ein Terminplan mit Oper und Lied?

CG Das ist schon schwierig, und ich tu mich auch nicht leicht damit, von der Oper zurückzukommen zum Lied. Da passieren ja auch physiologische Veränderungen beim Opernsingen. Dietrich Fischer-Dieskau, den ich sehr verehrt habe, sagte, es gebe nur eine Art des Gesangs, ob in der Oper oder im Lied. Das ist in meinen Augen aber Quatsch. Im Klavierlied ist die Vielfarbigkeit des Gesangs entscheidend, denn das Klavier ist ja eher einfarbig. In der Oper ist es genau umgekehrt. Da ist ja das Orchester schon sehr vielfarbig. Wenn ich da selber auch noch mit vielen Farben komme, kann das vor allem in der Dynamik schwierig werden.


BH Gibt es zwischen Ihren Opernprojekten und den Liedrezitalen Ruhepausen?


CG Theoretisch ja. Und es gibt auch Verbindungen. Wozzeck ohne Lied ist undenkbar. Berg hat angeblich an die sechzig verschiedene Anweisungen für die Gesangspartien geschrieben – da kommt das Polychrome des Liedgesangs wie gerufen. Auch der Wolfram in Wagners Tannhäuser braucht eigentlich einen Liedhintergrund.


BH Die Grenzen zwischen den Gattungen sind ja auch bei Mahler fliessend, seine Wunderhorn-Lieder finden Eingang in seine Sinfonien. Spielt das für Sie eine Rolle, denken Sie diese Lieder ‹sinfonisch›?


CG Nein. Erstens bin ich kein Dirigent. Und zweitens sind die Ursprünge ja nicht immer klar. Was war zuerst: die Sinfonie oder das entsprechende Lied, die Instrumentierung oder der Klaviersatz? Und gerade bei den Wunderhorn-Liedern gibt es eine grosse Abteilung von frühen Liedern, die nicht orchestriert sind. Insofern empfinde ich die Lieder für das Verstehen der Sinfonien als wichtig, die Sinfonien aber als weniger bedeutsam für die Rezeption und Interpretation der Lieder.


Interview: Benjamin Herzog

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