Zwei Figuren finden den Weg
Weil sein Vater tot ist, kehrt Prinz Hamlet auf Schloss Helsingör zurück. Er merkt, dass etwas faul ist im Staate Dänemark. Aschenputtel wiederum gelangt in ein Märchenschloss, findet alles prächtig und gewinnt den schönen Prinzen. Ist es Zufall, dass Schostakowitsch und Prokofjew gerade an diese Stoffe geraten sind?

Prokofjew und Schostakowitsch greifen Märchen- und Shakespeare-Stoffe auf, um musikalisch mit Krieg und Realität umzugehen. Prokofjew sucht in Cinderella Zuflucht in Tradition, Schostakowitsch reflektiert in Hamlet Machtkritik und persönliche Identifikation.
Es scheint bezeichnend, dass Sergei Prokofjew zwischen 1941 und 1945 ausgerechnet ein Märchenballett schreibt. Wenige Jahre zuvor ist er sorglos aus dem Westen in die Sowjetunion zurückgekehrt und hat mit Filmmusik und dem musikalischen Märchen Peter und der Wolf Erfolg in Ost und West. Nach Romeo und Julia nimmt er sich mit Cinderella ( russisch : Золушка ) erneut eine Ballettmusik vor, muss aber spätestens jetzt erkennen, dass Krieg und Terror auch sein Leben mitbestimmen.
Statt Auslandstourneen gibt es ‹Auslagerungen › nach Kasachstan. Prokofjew kann nicht in Ruhe arbeiten. Und als sein Ballett endlich fertig ist, wird es in einer länglichen Sitzung von Kollegen und Funktionären geprüft. Schostakowitsch ist auch anwesend. Prokofjew selbst meldet sich krank. Ein Sitzungsteilnehmer sagt dem Stück Erfolg voraus, « weil von dieser Musik aus feste Brücken zu Glasunow und Tschaikowski geschlagen werden ».
Diese « Brücken » sind in Prokofjews Handlungsballett mit seinen klassischen Formen offensichtlich. Darin sucht der Komponist nicht wohlfeile Weltflucht, sondern Selbstrettung – ins Zeitlose der Tradition, in die Wunderwelt der Kindheit, ins Universale des Volksmärchens. Wohin auch immer, denn alles ist besser als der Albtraum seiner Gegenwart.
Sind in diesem Licht die klagenden Klänge wirklich nur szenischer Ausdruck von Aschenputtels harter Arbeit ? Gilt die wundervoll erfundene Sehnsuchtsmusik wirklich nur ihrem Prinzessinnentraum ? Und sind die dunklen Klangfarben und die bedrohlichen Untertöne, die noch der schönste Walzer nie ganz abstreift, wirklich nur eine Folge von Prokofjews Personalstil und seiner Vorliebe für Kontrafagott und Tuba ?
Dmitri Schostakowitsch hat sich Märchenillusionen nie hingegeben. Vielleicht auch, weil er früh den Vater verliert und Geld verdienen muss. Er tut das als Kinopianist – und schöpft aus dieser Erfahrung ein Komponistenleben lang. Etwa in seinen über dreissig Filmmusiken. Mehrfach arbeitet er mit dem Regisseur Grigori Kosinzew ( 1905–1973 ) zusammen. Für dessen Shakespeare-Verfilmung Hamlet von 1964 komponiert Schostakowitsch eine schroffe Musik, die zu Kosinzews schwarzweisser Bildsprache passt, mit ihren lodernden Flammen, brandenden Wellen und rauen grauschwarzen Schlossmauern.
Aber sogar Schostakowitsch schlägt manchmal « Brücken zu Tschaikowski ». Dies allerdings in ganz bestimmten Szenen. Etwa als Hamlet sinniert : « Wie ekel, schal und flach und unerspriesslich scheint mir das ganze Treiben dieser Welt. » Da wird in seiner Filmmusik ein Sinn explizit, der zum Beispiel in Schostakowitschs Sinfonik – wo es ja ähnlich muntere Passagen gibt – unausgesprochen bleibt.
Die Suche nach solchen Deutungsschlüsseln führt zwar nicht überall zum Ziel. Verführerisch ist sie allemal, denn diese experimentierfreudige Filmpartitur klingt später andernorts nach. So beschliesst Schostakowitsch just mit den gespenstischen Schlagwerkschichten, wie er sie für den Hamlet-Film erfunden hatte, seine 15. und letzte Sinfonie von 1971. Hat er sich in Hamlets illusionslosem Blick auf Macht und Tod wiedererkannt ? In dessen Willen, nicht einfach ein « Instrument » der Mächtigen zu sein ? So wie Hamlet es ausdrückt : « Ihr könnt mich zwar verstimmen, aber nicht auf mir spielen. »
Autor: Felix Michel